„Der Kauf von Staatsanleihen war bis zur Euro-Krise unvorstellbar“: Birgit Henseler über ihren Job als EZB-Analystin

Birgit Henseler beobachtet als Fixed-Income Analystin die EZB seit fast 20 Jahren

Vor rund 20 Jahren startete Fixed-Income Analystin Birgit Henseler als Trainee bei der DZ BANK. Damals war die Europäische Zentralbank, die heute ihren 25. Geburtstag feiert, ein fast noch unbeschriebenes Blatt. Inzwischen hat sich viel getan. Spätestens durch die historisch hohe Inflation im Euroraum kennen auch Menschen die Notenbank, die sich zuvor noch nie mit Geldpolitik beschäftigt haben. „Das öffentliche Interesse an der EZB ist besonders groß, wenn sie ihre selbst gesteckten Ziele verfehlt. Derzeit liegt die Inflation deutlich oberhalb des gewünschten Niveaus. Kein Wunder, dass die Notenbank derzeit so polarisiert“, erklärt Birgit Henseler.

Während ihrer Karriere im Research der DZ BANK hat Birgit Henseler als EZB-Beobachterin schon viel erlebt. „Zwei einschneidende Ereignisse waren die Finanzkrise im Jahr 2007 und die daraus folgende Schuldenkrise im Euroraum. Die Politik der EZB hat sich anschließend fundamental geändert, was sich auch auf meine Analysten-Rolle ausgewirkt hatte“, sagt die Volkswirtin.

Neue EZB-Politik nach Schuldenkrise: Aufklärung war das Gebot der Stunde
Als Reaktion auf das Krisenumfeld senkte die Währungsbehörde die Leitzinsen immer weiter – sogar in den negativen Bereich. „Es gab keinen historischen Präzedenzfall für diese geldpolitische Maßnahme. Schließlich begann die EZB sogar damit, Staatsanleihen zu kaufen. Dieser Schritt war zuvor unvorstellbar“, erklärt die Analystin.

Auch erfahrene Analysten mussten sich deshalb in grundlegend neue Ansätze und Modelle eindenken. „Eine große Verunsicherung war damals zu spüren. Es stand auch die Frage im Raum, ob Banken mit Negativzinsen überhaupt umgehen können. Das Arbeitspensum erhöhte sich aufgrund der neuen Situation grundlegend. Die zahlreichen internen und externen Diskussionen über die neuen geldpolitischen Ansätze haben aber auch viel Spaß gemacht“, so Henseler.

Wichtig sei es damals gewesen, sowohl den internen Fachabteilungen als auch den Kunden schnell Orientierung zu geben. „Aufklärung war das Gebot der Stunde. Wir haben daraufhin die Anzahl unserer Research-Veröffentlichungen deutlich erhöht. Zudem haben wir in dieser Zeit vermutlich so viele Vorträge wie noch nie gehalten“, sagt Birgit Henseler, die zudem betont, dass das Anlageumfeld durch die EZB-Maßnahmen „komplett neu“ bewertet werden musste.

Langweilig werde es in ihrem Job als professionelle EZB-Beobachterin sowieso nie. Vor allem, wenn der Notenbank-Rat zusammenkomme, um eine neue Zinsentscheidung zu verkünden, sei die Hektik groß. „Sowohl unsere Kunden als auch Medienvertreter haben großes Interesse daran, wie wir die Maßnahmen der Notenbank einordnen und was wir daraus für unsere Zinsprognosen ableiten“, sagt die gebürtige Krefelderin.

Auch wenn Notenbank-Präsidentin Christine Lagarde derzeit häufig in der Kritik steht, schätzt Birgit Henseler die stehts so ruhig wirkende Französin. „Wenn Frau Lagarde mir in Frankfurt über den Weg laufen würde, würde ich sie fragen, wie es ist, die Verantwortung für die wirtschaftlichen Bedingungen von 450 Millionen Menschen zu übernehmen. Die ein oder andere schlaflose Nacht dürfte sie trotz ihrer lässigen Art vermutlich haben.“