06.04.2022
Devisenexperte Sören Hettler

Vor allem durch die Corona-Pandemie ist die Inflation in vielen Ländern stark nach oben geklettert. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine sorgt nun für einen weiteren Teuerungsschub. Zudem steht der noch Anfang des Jahres erwartete Post-Corona-Boom in Europa aufgrund des ungewissen Ausgangs des Konflikts auf der Kippe. Deshalb steigt die Gefahr einer Stagflation, also einer Kombination aus sehr geringem Wirtschaftswachstum und hohem Preisdruck, an. Devisenexperte Sören Hettler ordnet die aktuelle Lage im Interview ein. Zusammen mit seinen Research-Kolleginnen Birgit Henseler und Dorothea Huttanus hat er jüngst eine Studie über ein mögliches Stagflationsszenario veröffentlicht.

Die Inflation ist in Deutschland im März auf über 7 Prozent gestiegen und die Wirtschaft gerät wegen des Ukraine-Kriegs unter Druck – wie groß ist jetzt die Stagflationsgefahr?
Der Ukraine-Krieg hat den bereits hohen Preisdruck weiter angeheizt. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern weltweit. Zumindest auf kurze Sicht dürften die Inflationsraten hoch bleiben. Zu einer Stagflation gehört jedoch mehr. Zum einen muss der Preisdruck über einen längeren, geldpolitisch relevanten Zeitraum auf sehr hohem Niveau verharren. Dabei geht es um eine Inflation in Höhe von 6 Prozent oder mehr in den kommenden zwei bis drei Jahren. Zum anderen darf sich das Wirtschaftswachstum nicht wesentlich von der Nullprozentmarke entfernen. Mit beidem rechnen wir in unserem Hauptszenario derzeit nicht. Die Inflationsraten sollten spätestens in der ersten Jahreshälfte 2023 spürbar zurückgehen. Darüber hinaus erwarten wir ab dem Sommer dieses Jahres ein dynamisches Wirtschaftswachstum im Euroraum. Ungeachtet dieser Einschätzung stellen momentan jedoch der Krieg und ein mögliches Embargo für russische Energielieferungen einen erheblichen Unsicherheitsfaktor dar. Nicht nur politisch, sondern auch in Richtung eines Stagflationsrisikos.

Und wenn es doch so kommt: Was würde die EZB tun?
Wir gehen davon aus, dass die Mitglieder des EZB-Rats ihrer primären Aufgabe nachkommen und mit geldpolitischen Maßnahmen gegen einen hohen Preisdruck vorgehen werden. Dies gilt vor allem, wenn sich die längerfristigen Inflationserwartungen deutlich vom EZB-Zielniveau von 2 Prozent entfernen sollten und damit das Risiko von Zweitrundeneffekte zunehmen würde. Insbesondere die Lohnabschlüsse werden die Währungshüter hierbei im Auge behalten. Wir rechnen für diesen Fall mit Leitzinserhöhungen bis in den Bereich von 3 Prozent, ungeachtet der damit einhergehenden Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung. Die EZB würde das in den letzten Jahren etablierte Image als „Risikomanagerin“ abschütteln und sich als Inflationsbekämpferin aufstellen. Klare Hinweise zugunsten eines solchen Prozesses waren bereits auf der jüngsten EZB-Ratssitzung zu erkennen.

Ukraine-Krieg, Energiewende und eine alternde Gesellschaft – was spricht überhaupt noch dafür, dass sich die Teuerungsrate wieder beruhigt?
Die deutlich gestiegenen Rohstoffpreise machen den Löwenanteil der aktuell sehr hohen Inflationsrate aus. Diese sollten sich früher oder später auf einem erhöhten Niveau einpendeln und dann nicht mehr preistreibend wirken. Entscheidend für die nächsten Quartale ist, ob und inwieweit spürbare Zweitrundeneffekte einsetzen und in einer Lohn-Preis-Spirale münden. Gegen dauerhaft hohe Inflationsraten sprechen bislang sowohl weitgehend verhaltene Lohnabschlüsse als auch die langfristigen Inflationserwartungen, die momentan lediglich knapp oberhalb der 2 Prozent-Marke liegen. Sehr wahrscheinlich ist aber auch, dass die Inflation nicht auf die extrem niedrigen Niveaus zurückkehren wird, die über weite Strecken des letzten Jahrzehnts zu beobachten waren.

Handelt die EZB derzeit nicht viel zu zögerlich?
In den vergangenen Jahren waren die Vorgaben für die Geldpolitik von einem deutlich zu geringen Preisdruck geprägt. Negativzinsen und eine üppige Liquiditätsbereitstellung waren die Antwort des EZB-Rats. Nun haben sich die Rahmenbedingungen verändert. Die geldpolitisch Verantwortlichen müssen daher einen Weg finden, die sehr lockere Ausrichtung zurückzufahren, und das ohne die Stabilität des Finanzsystems und die wirtschaftliche Entwicklung übermäßig zu belasten. Einen ersten Schritt in diese Richtung ist das für den Sommer in Aussicht gestellte Ende der Netto-Wertpapierankäufe. Der zweite dürfte eine Einlagesatzanhebung spätestens im Dezember sein. Ob die derzeitige EZB-Politik „zu“ zögerlich ist, wird sich zwar erst im Nachgang feststellen lassen. Gezwungen mehr zu tun, ist die Geldpolitik aber erst, wenn die langfristigen Inflationserwartungen Gefahr laufen, ihre Verankerung im Bereich des 2 Prozent-Ziels der EZB zu verlieren. Klar ist: würde der Leitzins jetzt aggressiv angehoben, hätte das wohl auch keinen Einfluss auf die Rohstoffpreise. Dennoch muss die Notenbank mit ersten Schritten in diesem Jahr reagieren. 

Hohe Inflationsrate, schwaches Wirtschaftswachstum und entschlossene Zentralbanken – welche Folgen hätte das für Renten- und Devisenmarkt?
Wir rechnen in unserem Stagflations-Szenario mit deutlich höheren Renditen an den Anleihemärkten – sowohl in den USA als auch im Euroraum. So dürften deutsche Bundesanleihen mit zehnjähriger Laufzeit bei rund 3,5 Prozent rentieren. Eine „traditionelle“ Reaktion, wie sich Euro, Dollar & Co. in stagflationären Zeiten verhalten, gibt es zwar nicht. Dennoch gibt es so etwas wie Ur-Instinkte, die greifen, sobald Unsicherheit die Finanzmärkte erfasst. Reflexartig dürfte daher auch beim Einpreisen eines Stagflationsszenarios der Greenback als unfehlbarer Sicherer Hafen gefragt sein. Nach und nach sollte hingegen der Euro die Oberhand gewinnen. Hintergrund ist die von uns unterstellte Wandlung der Europäischen Zentralbank hin zur entschiedenen Inflationsbekämpferin, die das Potenzial hat, der Gemeinschaftswährung nachhaltigen Auftrieb zu geben.