11.06.2024

Europawahl: „Die etablierten Parteien sind unter Zugzwang“

Michael Holstein fordert von den demokratischen Parteien eine Zusammenarbeit ohne ideologische Scheuklappen

Europa hat gewählt. Mit der EVP, zu der auch die Unionsparteien gehören, hat zwar ein gemäßigtes Bündnis europaweit gewonnen, die populistischen Parteien haben aber deutlich zugelegt. Gleiches gilt auch für Deutschland. Die Alternative für Deutschland (AfD) holt das zweitstärkste, das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) aus dem Stand das fünftstärkste Ergebnis aller Parteien. Die Ampelregierung verliert dagegen drastisch.

Herr Holstein, die Ampel übertrifft mit drei Parteien die Union beim Wahlergebnis nur minimal – was sagt das über die deutsche Regierung aus?

Die Ampel-Koalition hat stark an Rückhalt verloren, sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Unternehmen in Deutschland. Die Regierung fährt keinen klaren Kurs, wird in wichtigen Themenbereichen als uneinig und zerstritten wahrgenommen. Besonders schwierig mit Blick auf die kommenden Wahlen ist, dass die Unzufriedenen in großer Zahl den Populisten rechts und links außen ihre Stimme gegeben haben, und nicht der demokratischen Alternative.

Populistische Parteien haben stark zugelegt – was bedeutet das mit Blick auf große Herausforderungen wie Verteidigung, Transformation der Wirtschaft und Migration?

Gerade in diesen großen Themen müssen die demokratischen Parteien zwar nicht übereinstimmen, aber einen sachlichen Diskurs führen und sich nicht polemisch gegenseitig zum „Hauptgegner“ erklären. Hauptgegner sind die Populisten am rechten und linken Rand des Spektrums. Sie vertreten bei diesen Themen grundsätzlich andere Positionen, bieten keine echten Lösungen an und lehnen unser politisches System ab. Demokratische Parteien müssen für eine sachbezogene und pragmatische Zusammenarbeit offen sein. Da muss jeder über seinen Schatten springen können.

Was muss die Politik jetzt tun, damit extreme Parteien nicht noch mehr Aufwind bekommen?

Es muss eine klarere Abgrenzung von den Extremisten und ihren Positionen geben. Wer sich nicht klar zu unserer Demokratie bekennt, mit dem darf es keine Zusammenarbeit geben. Wir müssen den demokratischen Diskurs mehr schützen, auch in der Öffentlichkeit. „False-Balancing“ führt häufig dazu, dass in den Medien extreme und demokratische Positionen gleichberechtigt nebeneinander stehen und Fake News verbreitet werden können, um die Diskussion zu vergiften. Unsere Demokratie muss abwehrbereiter werden, auf vielen Ebenen.

Der französische Präsident hat aufgrund des schlechten Wahlergebnisses seiner Partei Neuwahlen ausgerufen – blicken Investoren nun kritischer auf Frankreich und die EU?

Viele Investoren haben die Risiken, die sich aus geopolitischen Konflikten oder auch aus der teilweise nicht tragfähigen Fiskalpolitik einzelner Länder ergeben, lange  ausgeblendet. Es kann gut sein, dass diese Risiken in einer Zeit größerer politischer Unsicherheit wieder zentraler werden. Sollten Populisten im zweitgrößten EU-Land bald die Regierung stellen, wird das die Investoren sicherlich beunruhigen.