02.12.2022

Unsere Kunden im Wandel – wie Salzgitter den Stahl neu denkt

Deutschland soll bis 2045 CO2-neutral werden. Wichtig dafür ist nicht nur ein strategisches Umdenken, sondern es geht auch um Milliardeninvestitionen in den Wirtschaftsstandort. Doch was genau bedeutet das für die Realwirtschaft? Wie gehen die Unternehmen diese Mammutaufgabe an? Wir haben mit jemandem gesprochen, der es wissen muss. Markus Heidler leitet die Investor Relations-Einheit der Salzgitter AG - einer der größten Stahlhersteller des Landes. Er sagt: „Die Umstellung gleicht einer OP am offenen Herzen.“ Im Gespräch berichtet er, wie Salzgitter unter CEO Gunnar Groebler nahezu CO2-frei werden will und wie das bei den Kunden ankommt.

Markus Heidler, Leiter Investor Relations der Salzgitter AG

Herr Heidler, die Stahlindustrie verantwortet einen erheblichen Anteil der deutschen CO2-Emissionen. Wo sind die größten Stellschrauben, um Stahl grün werden zu lassen? 

Die Stahlindustrie gehört prozessbedingt zu den größten CO2-Emittenten des Landes. Insgesamt gehen 7 Prozent der deutschen Emissionen auf die Branche und etwa 1 Prozent auf die Salzgitter AG zurück. Der größte Hebel, um das zu ändern, ist, den 2.000 Jahre alten Produktionsprozess völlig neu zu denken. In den Hochöfen wird traditionell Roheisen aus Eisenerz durch Kokskohle erschmolzen, wobei große Mengen CO2 freigesetzt werden. Diesen Prozess werden wir nun komplett verändern. 2015 haben wir ein Konzept ausgearbeitet, bei dem der Kohlenstoff als Energieträger durch Wasserstoff ersetzt wird. Übrig bleibt dabei am Ende statt CO2 reines Wasser. Dieser Ansatz ist beispielgebend für die gesamte europäische Stahlbranche.

Wir gehen davon aus, dass Wasserstoff den bisher verwendeten Kohlenstoff in Zukunft nahezu vollständig ersetzen kann. Damit würden wir 95 Prozent unserer CO2-Emissionen einsparen. Entsprechend groß ist die Wirkung für den Standort Deutschland. Für uns als Salzgitter geht es dabei um nicht weniger als den Ersatz unserer Hochöfen – dem Sinnbild der Stahlindustrie und dem Kern unserer bisherigen Produktionstechnik. 

Woher bekommen Sie die großen Mengen an Wasserstoff, die Sie für die Produktion brauchen?

Den benötigten Wasserstoff werden wir zum einen selbst produzieren, zum anderen zukaufen. Im kleinen Maßstab erzeugen wir heute schon grünen Wasserstoff. Dafür haben wir sieben Windkrafträdern mit einer Gesamtleistung von rund 30 Megawatt auf und neben unserem Werksgelände errichten lassen haben. Mit der ersten Ausbaustufe unseres Transformationsprogramms werden wir eine 100 Megawatt-Elektrolyse errichten. Den dafür benötigten grünen Strom kaufen wir zu. Hierfür haben wir bereits erste Verträge abgeschlossen. Mittelfristig wird eine Wasserstoff-Infrastruktur entstehen, die Produzenten und Konsumenten zueinander bringt.

Um die Stahlherstellung auf grün zu stellen, brauchen Sie komplett neue Anlagen. Welche Investitionen sind dafür nötig?

Da haben wir in den vergangenen Monaten schon viel erreicht. Wir haben Eigenmittel in Höhe von über 700 Millionen Euro freigegeben für die größte Investition seit unserem Börsengang im Jahr 1998: SALCOS®. Dahinter verbirgt sich der Bau von Elektrolyse- und Direkt-Reduktionsanlagen und Elektroöfen am Standort Salzgitter, die die Hochöfen sukzessive ersetzen. Auf unserem Gelände befindet sich bereits eine sogenannte Mikro-Direkt-Reduktionsanlage, mit der wir das neue Verfahren testen.

Damit sind wir unserem Ziel, grünen Stahl herzustellen, einen entscheidenden Schritt nähergekommen. Ab 2026 wollen wir mit der neuen Produktionsweise pro Jahr 1,9 Millionen Tonnen CO2-armen Stahl erzeugen. Das entspricht rund einem Drittel der heutigen Produktion. Bis 2033 wollen wir dann komplett umgestellt sein. 

Ihre Investitionen werden durch die Bundesrepublik und das Land Niedersachen mit einer Milliarde Euro gefördert. Wie offen erleben Sie die Banken in diesem Zusammenhang? Hat man es als Stahlkonzern da heutzutage schwer?

Das Interesse an unserer Transformation und speziell SALCOS® ist riesig – auch bei Banken und Investoren. In Gesprächen erlebe ich fast täglich, dass uns zugetraut wird, die Stahlproduktion zu revolutionieren. Wir stehen dazu im Austausch mit unseren Banken, auch mit der DZ BANK. Bisher ist für uns vor allem der klassische Bankkredit das Mittel der Wahl. In Zukunft könnten aber auch ESG-geknüpfte Finanzierungsinstrumente interessant werden. Das hohe Interesse an der Transformation unseres Unternehmens wurde auch in den zahlreichen Gesprächen auf der DZ BANK-Equity Konferenz Mitte November deutlich, an der ich zusammen mit unserem CEO Gunnar Groebler teilgenommen habe.

Welchen Einfluss hat die Energiekrise auf die Transformation von Salzgitter? Immerhin ist die Stahlproduktion auch sehr energieintensiv.

Was Strom betrifft, sind wir an unserem Hauptstandort autark unterwegs, denn wir verfügen über ein betriebseigenes Kraftwerk. In dem wird das im Hochofenprozess entstehende Gas verstromt. Das schützt uns vor Ausfällen und zum Teil natürlich auch vor den exorbitanten Preissteigerungen. Anders sieht es bei Erdgas aus, das wir übergangsweise auch für die wasserstoffbasierte Produktionstechnik benötigen. Wir haben Vertrauen in die Politik und setzen darauf, dass die europäische Energieversorgung bis zur Marktreife von SALCOS® wieder stabiler aufgestellt sein wird als sie es heute ist.

Klar ist: Es ist sicher eine Herausforderung, dass wir mit SALCOS® zum Großverbraucher von erneuerbarem Strom, Wasserstoff und zeitweise Erdgas werden. Erneuerbare Energien sind noch ein knappes Gut und werden das absehbar auch bleiben. Außerdem muss man deutlich sagen, dass die Produktion mit Wasserstoff teurer wird die als mit Kohle. Diese Preissteigerungen werden wir an unsere Kunden weitergeben müssen.

Stoßen sie dabei auf Verständnis?

Mehrheitlich ja. Stahlprodukte werden von zahlreichen unterschiedlichen Branchen weiterverarbeitet, etwa der Automobilindustrie, der Baubranche oder in Maschinen. Unsere Kunden signalisieren ein enormes Interesse an grünen Stahl. Das Segment wird wachsen und das Produkt sicher bis Mitte der 2030er Jahre hinein ein knappes Gut bleiben. Die meisten unserer Kunden kommen aus Deutschland und der EU. Hier ist nicht nur das Bewusstsein für ESG-konformes Material groß. Für viele von ihnen tragen nachhaltig hergestellte Vorprodukte auch maßgeblich dazu bei, dass sie ihre eigenen Dekarbonisierungsziele erreichen. Denn dazu müssen sie früher oder später die gesamte Wertschöpfungskette unter die Lupe nehmen. 
Wir sehen sogar, dass zahlreiche Kunden jetzt schon Verträge mit uns abschließen, um sich direkt Stahl aus wasserstoffbasierter Produktion zu sichern – obwohl SALCOS® erst ab 2026 im Einsatz sein wird. Dafür zahlen sie schon heute ein Premium, also einen Preisaufschlag. Das ist ein Vertrauensbeweis, den man nicht hoch genug einschätzen kann.

Gibt es bei allem Optimismus auch Herausforderungen bei der Umsetzung von SALCOS®?

Bei uns müssen die herkömmlichen Produktionsprozesse bis zum letzten Tag reibungslos laufen, damit wir unsere Aufträge erfüllen und damit nicht zuletzt das Geld verdienen können, mit dem wir unsere Transformation bezahlen. Die Umstellung gleicht also einer OP am offenen Herzen. Gleichzeitig machen wir unsere Mitarbeiter fit für die neue Technologie. Am Standort stehen umfassende Umschulungen für einen Großteil der Belegschaft an. Insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels können wir die Transformation ohne qualifiziertes Personal nicht stemmen.