Mehr als eine Krise: FAZ Gastbeitrag von Chefvolkswirt Michael Holstein
Der Angriffs-Krieg in der Ukraine wird für Europa und Deutschland noch wesentlich gravierendere Folgen haben als die Coronakrise, die nun schon seit über zwei Jahren andauert. Die Pandemie begann zwar mit einem tiefen ökonomischen Einbruch, ihre Auswirkungen waren in der Folge aber wirtschaftspolitisch aufzufangen. Wenn auch unter hohen Kosten: Ein schwieriges Corona-Erbe sind die markant gestiegenen Schuldenstände der Staaten sowie die aktuell hohen Inflationsraten, die bereits die Notenbanken auf den Plan gerufen haben.
Die Eskalation in der Ukraine wird bereits vielfach als „Zeitenwende“ beschrieben: Der Konflikt markiert den Endpunkt einer mehr als 30-jährigen Phase, die nach dem Ende des kalten Krieges mit großen Hoffnungen begann und zuletzt auch durch Illusion und Selbstbetrug geprägt war. Das betrifft vor allem die europäische Sicherheitspolitik, aber auch die Wirtschafts- und Finanzpolitik ganz allgemein.
In der politischen Debatte in Deutschland haben die Bundeswehr und die Verteidigungsfähigkeit des Landes seit vielen Jahren kaum eine Rolle gespielt. In Energiefragen ist sehenden Auges die Abhängigkeit von einem autoritären Regime verfestigt worden, was Wirtschaft und Gesellschaft nun in eine höchst prekäre Lage gebracht hat.
Ein Ausweg aus dieser verfahrenen Situation hängt letztlich auch vom Ausgang des Krieges in der Ukraine ab. Sollte der russische Einmarsch erfolgreich sein, ist Europa auf viele Jahre hinaus mit einem akuten Bedrohungsszenario konfrontiert. Die Verteidigungsausgaben müssen massiv steigen, die ersten Beschlüsse hierzu sind bereits gefallen.
Auch das energiepolitische Umsteuern ist unvermeidlich. Die Energiewende hin zu den Erneuerbaren mit einer stärkeren Nutzung von (russischem) Erdgas bewältigen zu wollen, war ein gefährlicher Irrweg. Der Abschied sowohl von der Kernkraft als auch von der Kohleverstromung beruhte auf falschen Annahmen, denn die Versorgung mit günstigem Erdgas ist eben keinesfalls gesichert. Da der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht schnell genug gelingen wird, muss auch in der Energiepolitik eine Kehrtwende vollzogen werden.
Finanzpolitisch sind die notwendigen, erheblichen Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur zu bewältigen. Und doch wird es große Anstrengungen verlangen, dies ohne eine weiter ausufernde Verschuldung zu schaffen. Prioritäten müssen neu gesetzt werden, einige Wohltaten werden nicht mehr länger finanzierbar sein. Die Verwaltung muss effizienter werden, nicht nur bei der Bundeswehr. Sozialpolitische Beschlüsse der letzten Jahre, etwa in der Rentenpolitik, müssen wieder auf den Prüfstand. Der Staat muss schlanker und gleichzeitig handlungsfähiger werden, um diese immensen Herausforderungen bewältigen zu können.
Der Autor ist Chefvolkswirt der DZ BANK, der Beitrag ist am 7. März 2022 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.